Jahreslosung 2022

Jahreslosung 2022

„Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen“ (Joh. 6:37)

 

Hören wir zunächst in den Textzusammenhang hinein. Das hilft uns, eine Idee von den Umständen zu bekommen, unter denen Jesus diese Worte sprach:

 

In jener Zeit sprach Jesus zu der Menge: Alles, was der Vater mir gibt, wird zu mir kommen, und wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen; denn ich bin nicht vom Himmel herabgekommen, um meinen Willen zu tun, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat.

Das aber ist der Wille dessen, der mich gesandt hat, dass ich keinen von denen, die er mir gegeben hat, zugrunde gehen lasse, sondern dass ich sie auferwecke am Jüngsten Tag.

Denn das ist der Wille meines Vaters, dass jeder, der den Sohn sieht und an ihn glaubt, das ewige Leben hat und dass ich ihn auferwecke am Jüngsten Tag.

 

Das ist der Kontext der Jahreslosung 2022.

Die biblische Geschichte schildert einen besonderen Moment im Leben Jesu, dem wichtige Ereignisse vorausgegangen sind.

Am Tag zuvor sitzt Jesus mit seinen Jüngern auf einem einsamen Berg, als eine große Menschenmenge sich versammelt, um ihn zu sehen und zu hören. Und dann geschieht ein Wunder: Jesus sättigt mit fünf Broten und zwei Fischen, die er von einem Knaben bekommt, mehr als 5.000 Menschen.

Am Abend steigen die Jünger ohne Jesus vom Berg hinab und betreten ein Boot. Als sie sich mitten auf dem See befinden, sehen sie Jesus auf dem See gehen und sich dem Schiff nähern. Sie fürchten sich zunächst, aber dann steigt Jesus zu ihnen ins Boot, und sie kommen sicher ans andere Ufer.

Einen Tag später wollen die Menschen, die die "Speisung der Fünftausend" erlebt haben, mit Jesus sprechen - doch sind weder er noch seine Jünger zu finden, woraufhin sie ebenfalls mit ihren Booten ans andere Ufer des Sees fahren. Sie entdecken Jesus und bestürmen ihn mit Fragen. Jesus weiß, dass das Wunder Brotvermehrung mächtig imponiert hat – sie wollen ihn zu ihrem Brotkönig machen…

Jesus weicht ihren den Fragen nicht aus, sondern beantwortet sie mit der schlichten und provozierenden Antwort: Das Werk Gottes besteht darin, dass ihr dem glaubt, den er gesandt hat. Und der kann mehr als Brote vermehren. Dann folgt das erste seiner Ich-bin-Worte:

Ich bin das Brot des Lebens.

Die Teilhabe an diesem Brot, das nicht nur den leiblichen Hunger stillt, sondern Heil im umfassendsten Sinn und ewiges Leben schenkt, ist im Glauben an ihn möglich.

Jesus lässt seine Zuhörer nicht im Zweifel – wer den Schritt zu ihm wagt, der ist von seinem Vater dazu angeregt worden. Und Gott, der Vater will, dass möglichst alle zu Jesus, seinem Sohn kommen. Er lädt alle dazu ein, er schafft die Voraussetzung dafür, dass alle zu Jesus kommen können.

Und genau das ist doch die Botschaft des Evangeliums, das ist die ständige Einladung des Herrn an seine Zeitgenossen und an uns heute:

„Kommt her zu mir, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken“ (Matth. 11, 28.)

Aber leider wollen nicht alle zu ihm kommen. Und im Umfeld der Jahreslosung ist deutlich erkennbar, dass der persönliche Glaube gefragt ist. Wer so im Vertrauen zu mir kommt, sagt Jesus, den werde ich nicht abweisen, egal wie deine persönliche Verfassung oder Lebenssituation ist. Du musst keine reine, weiße Weste haben, um bei mir angenommen zu werden. Nein, mit allen Flecken und dunklen Punkten auf der Landkarte deines Lebens darfst du zu mir kommen.

Genauso wie wir sind, will er uns haben, um uns zu erquicken. Dieses alte deutsche Wort ist eine Fundgrube an Trost, Stärkung, Erneuerung und Veränderung.

Und das Wunderbare ist, dass sich Jesus schon lange auf den Weg zu uns gemacht hat. Er ist es, der den ersten Schritt auf dich und mich hin getan hat. Ich bin erstaunt, in wie vielen Liedern das zum Ausdruck kommt.

„Ehe du geboren wurdest, hat dich Gott erkannt. Oft hat dir im Herzen schon sein Wort gebrannt.
Hell und Dunkel deines Lebens sind ein Ruf nach Haus, und noch immer weichst du Seiner Liebe aus“
(aus dem Lied „Noch dringt Jesu frohe Botschaft in die dunkle Welt“).

Oder das alte Lied „Ich habe nun den Grund gefunden, der meinen Anker ewig hält“:

„Dem allemal das Herze bricht, wir kommen oder kommen nicht“.

 

Wenn wir einen Blick werfen auf die Begegnungen von Jesus mit Menschen, von denen uns die Evangelien berichten, stellen wir fest, dass es eine merkwürdige Gesellschaft war, die Jesus offensichtlich anzog. So merkwürdig, dass andere sogar über ihn die Nase rümpften, frei nach dem Motto: Wenn er wirklich Gottes Sohn wäre, würde er sich mit solchen Leuten nicht abgeben.

·      Da ist Zachäus, der stellvertretend für schuldig gewordenen Manager und Geschäftsleute steht. Ein bekanntes Beispiel aus jüngerer Zeit mag der straffällig gewordene Manager Thomas Middelhoff sein, der in einem Interview über seine Zeit im Gefängnis sagt:

„… auf der anderen Seite hatte ich das Gefühl entwickelt, egal was dir hier passiert, Gott lässt dich nicht fallen. Die Erkenntnis, dass Gott mir etwas zeigen wollte und seine Hände dabei schützend unter mir gehalten hat, das hat den Glauben in mir stärker werden lassen“.

Zachäus suchte Jesus, aber der hatte schon längst diesen verachteten Zöllner und Sünder im Visier. Wir wissen, wie die Geschichte endete.

 

·      Vielleicht eine der schönsten Illustrationen für die Jahreslosung ist das Gleichnis vom verlorenen Sohn.

Der Vater hält Ausschau nach seinem Sohn, der auf Abwege geraten ist und dann endlich in sich geht und zurück ins Vaterhaus will. Der entscheidende Impuls ist doch das Wissen, dass jemand, der ihn nicht aufgegeben hat, auf ihn wartet. Diese Sehnsucht nach der Rückkehr in die Gemeinschaft Gottes ist das Wirken des Heiligen Geistes, der Menschen zu Jesus zieht. Der verlorene Sohn kehrte so zurück, wie er vom Schweinestall kam. Der Rest des Gleichnisses ist auch bekannt.

 

·      Wir sehen in der Gesellschaft Jesu den aufbrausenden und notorisch unbeständigen Simon Petrus. Aber nicht nur das. In einer entscheidenden Situation versagt dieser großspurige Mann und verleugnet seinen Meister. Aber trotz seines Verrats am Lagerfeuer im Hofe des Hohenpriesters - nach seiner Auferstehung nimmt Jesus ihn wieder an und weist ihn nicht ab. Genau das Gegenteil: Er bekommt einen neuen Auftrag: Weide meine Schafe! Petrus steht für schuldig gewordene Menschen im Dienst Gottes, denen die Gnade eines Neuanfangs geschenkt wird.

 

·      Wir sehen Maria Magdalena, die Jesus aus ihrer inneren Knechtschaft in die Freiheit führt.

Von der Gesellschaft verachtete Menschen, Männer oder Frauen, werden von Jesus nicht abgewiesen. Sollten wir in unseren Gemeinden das nicht auch tun?

 

·      Wir sehen die Frau am Brunnen, die auf der Suche nach der großen Liebe immer wieder an den Falschen geraten war.

Jesus hat auf sie gewartet, bevor sie zu ihm kam. Er hat sie zurechtgebracht und nicht wegen ihres Lebenswandels abgewiesen. Ein schönes Beispiel von Offenheit für Menschen, deren Lebenswandel so kritisch beobachtet wird, dass sie möglichst unbemerkt von anderen ihren Weg gehen wollen.

 

·      Da ist der Raubmörder am Kreuz, den Jesus nicht abweist, sondern ihn ins Paradies mitnimmt.

 

·      Da ist der Christenverfolger Saulus, den Jesus nicht von sich weist, sondern erneuert und in seinen Dienst stellt. Paulus sagt im Rückblick auf seine Annahme durch Jesus:

„Aber darum ist mir Barmherzigkeit widerfahren, dass Christus Jesus an mir als Erstem alle Geduld erweise, zum Vorbild denen, die an ihn glauben sollten zum ewigen Leben“ (1Tim 1).

 

·      Doch Halt! Da ist doch diese syro-phönizische Frau, die sich an Jesus mit der Bitte um die Heilung ihrer von einem Dämon besessenen Tochter bittet und zunächst von Jesus abgewiesen wird. Wie passt das zur Jahreslosung? Sehr gut, denn diese heidnische Frau, die ihre eigene Unwürdigkeit erkannte, wurde doch von Jesus nicht zurückgewiesen, sondern schmeckte im Voraus etwas von der Gnade, die wir heute im Vollmaß kennen und genießen dürfen. Ob wir wohl dankbar genug dafür sind, dass Gott sich zu den Nationen außerhalb von Israel gewandt hat?

 

·      Wir könnten die Liste fortsetzen mit vielen anderen Namen, die uns die Tradition bewahrt hat. Ganz abgesehen von den vielen ungenannten und darum bis heute unbekannte Nachfolgerinnen und Nachfolgern Jesu aus seiner irdischen Zeit, die zu ihm kamen mit den Scherben und Bruchstücken ihres Lebens.

 

Jesus Christus spricht: Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen. Dieser Vers stellt uns eben genau diesen Jesus vor, dem es nicht darum geht, auszusortieren, wer zu ihm gehört und wer nicht. Wer die richtigen Formeln beim Beten und Sprechen von seinem Glauben benutzt und wer nicht. Wer zur vermeintlich richtigen Kirche gehört. Wer die richtigen theologischen Ansichten teilt. Wer sein Leben gut sortiert hat und wer nicht.

Die ersten Gemeinden zogen Menschen aus allen Schichten an

Es gibt Gemeinden, die entwickeln eine erstaunliche Offenheit und eine herzliche Willkommenskultur. Gäste und Fremde fühlen sich auf Anhieb wohl. Denn sie treffen auf eine Gemeinschaft, die die Worte von Jesus auf den ersten Blick beherzigt.

Als Missionare in Lima, Perú, erlebten wir allerdings in der uns lieb gewordenen Gemeinde im Elendsviertel Delicias de Villa anfangs etwas sehr Befremdliches. Am Eingang des großen Kirchgebäudes standen hin und wieder zwei ältere Brüder, die besonders die jungen Frauen und Mädchen ins Visier nahmen und die, deren Kleidung nicht ihren Vorstellungen entsprachen, nach Haus schickten. Das empfanden wir als sehr abstoßend, und es konnte bald geändert werden. Wir brauchten keine „Sittenpolizei“ vor der Kirche – alle sollten willkommen sein.

Regeln, die Äußerlichkeiten betreffen, die aber manchmal auch bis ins Intimste reichen, haben im Lichte der Jahreslosung keinen Platz in der Gemeinde. Denn dann kann leicht das Gefühl aufkommen, es plötzlich mit einem anderen Jesus zu tun zu haben. Einen, der sehr wohl und ganz genau darauf sieht, wer zu ihm kommen darf und wer nicht.

Schon in den ersten Gemeinden wurde die Einladung von Jesus ernst genommen. Paulus, der als Saulus dem auferstandenen Jesus begegnete und von ihm angenommen wurde, schreibt: „Es spielt keine Rolle mehr, ob ihr Juden seid oder Griechen, Sklaven oder freie Menschen, Männer oder Frauen. Denn durch eure Verbindung mit Christus Jesus seid ihr einer in Christus“ (Galater 3,28).

Die ersten Gemeinden zogen Menschen aus allen Gesellschaftsschichten an, und in ihnen wurden deshalb die Grenzen überwunden, die Menschen einander auferlegen.

Es gibt eine gewisse „Wagenburgmentalität“ in unserem Unterbewusstsein, die andere Menschen bewusst oder auch unbewusst ausgrenzt. Die kann und darf überwunden werden, wenn wir versuchen, die Jahreslosung zu praktizieren:

Jesus Christus spricht: Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen. In diesem Wort begegnet uns Jesus, wie wir ihn aus den Evangelien kennen. Jesus, der grundsätzlich ein Freund der Menschen ist. Der sich den Sündern zuwandte. Der ihnen keine neuen Regeln auferlegte, sondern sie von quälenden Lasten befreien wollte. Der Menschen auch heute in die Weite und in die Freiheit führt. Der erfülltes und überfließendes Leben schenkt. Der barmherzig ist und jede und jeden unendlich liebt.

Diesen Jesus lasst uns anderen schmackhaft machen, indem wir in seiner Liebe und Freiheit denen begegnen, die er auch in seine Gemeinschaft bringen will.

Amen.